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Magie der Dummheit

Der französische Wissenschaftsjournalist Jean-François Marmion hat das Geheimnis einer urmenschlichen Eigenschaft entschlüsselt: die Psychologie der Dummheit. In seinem Buch machen sich 29 Experten Gedanken dazu. Gleichermassen klug wie erhellend.

Ein Velofahrer fährt uns auf dem Trottoir fast um, die Nachbarin nervt wieder mal gewaltig, und die Kassiererin im Lebensmittelgeschäft stellt sich zum xten mal äusserst umständlich an. Unser Alltag bestätigt es regelmässig: Die Welt ist voller Dummköpfe, Idioten, Spinnerinnen und Dumpfbacken. Oder bilden wir uns das womöglich bloss ein, weil wir selber unzufrieden, engstirnig und festgefahren sind? Lässt sich Dummheit überhaupt definieren und belegen – oder ist sie blosse Interpretationssache und trifft folglich alle, also auch uns? Diesen Fragen geht ein höchstspannendes Buch nach: «Die Psychologie der Dummheit». Gemäss dem verantwortlichen Verlag handelt es sich dabei um eine Weltpremiere.

Insgesamt 29 Autoren machen sich darin aus unterschiedlichsten Blickwinkeln Gedanken zur Dummheit. Sie wollen damit eine Lücke der Wissenschaft schliessen. Denn Dummheit ist geradezu unerforscht, wie der Wissenschaftsjournalist Jean-François Marmion schreibt, der die vielen Interviews und Essays gesammelt hat. Dabei gehört die Dummheit zu den wohl ausgeprägtesten menschlichen Wesenszügen: Geschichtsbücher und das normale Leben bestätigen das leider oft genug.

Zu den Vordenkern, die unseren Hang zu Torheiten  erklären, gehören Psychologen, Neurowissenschaftler, Soziologen, Schriftsteller und Philosophen oder der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman. Die Analysen sind wissenschaftlich fundiert, ernsthaft und doch oft auch amüsant, spannend und leicht verständlich geschrieben. 

Dummköpfe denken in der Herde

Intelligenz ist psychologisch gut erforscht, die Dummheit aber wurde kaum je beleuchtet. Jean-François Marmion will das ändern. Er interessiert sich nicht etwa für Gelegenheits-Dumpfbacken, sondern für Dummköpfe reinster Qualität. Für Menschen wie jene, die in oft in sozialen Medien zu finden sind und über Twitter, Facebook oder andere digitalen Kanäle wettern: «Dieser Dummkopf weiss sich als eifrig besorgter Bürger zu präsentieren, der seinesgleichen um sich schart und zur Lynchjustiz aufruft. Er jagt im Rudel und denkt in der Herde.» 

Ein anderer Autor erklärt uns die Zeiterscheinung des «Bullshittens», in dem es mehr um die Botschaft als um deren Wahrheitsgehalt geht. Auch diese Spezies hat gerade Hochkonjunktur und längst nicht nur in der amerikanischen Politik. Wobei: Bereits der ehemalige amerikanische Präsident Bill Clinton kannte sich mit «Bullshitten» aus. In einem Interview sagte er dazu: «Oft kommt es weniger darauf an, was du sagst – sondern wie du es sagst.» 

Auch das System der Verschwörungsthoerien, wie sie in Corona-Zeiten neuerlich die Runde machen, wird im Buch schlüssig erläutert. Denn der Mensch, so Psychologe und Mathematiker Nicolas Gauvirt, suche ständig nach verborgenen Mustern – selbst dort, wo nur der Zufall am Werk sei. Dieser Hang führt uns in immer neue Denkfallen. Das ist zwar menschlich, oft aber auch dümmlich.

«Die Psychologie der Dummheit» ist allein der eingestreuten Zitate wegen ein Lesegenuss. «Der gesunde Menschenverstand ist die am besten verteilte Sache der Welt», schreibt darin der französische Philosoph René Descartes. «Die schlimmste Dummheit ist die, sich für intelligent zu halten», bilanziert Schriftsteller und Drehbuchautor Jean-Claude Carrière. Und Papst Johannes Paul II. wird mit dem Bonmot zitiert: «Die Dummheit ist eine Gottesgabe. Wir sollten sie aber nicht überstrapazieren.» Die 29 Expertisen sind eine gute Gelegenheit, sich dagegen zu stemmen. Schade, lesen Dummköpfe kaum Bücher.

«Die Psychologie der Dummheit», Jean-François Marmion, Riva Verlag, 336 Seiten, 39.90 Franken

Beitrag vom 12.09.2020
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