© Stolen Moments

Alltagsszenen in Schwarz-Weiss

Daniel Comte fotografierte, bis seine Demenzerkrankung es nicht mehr zuliess. Sohn Anatole und Freundin Heike Rindfleisch realisierten daraus einen Bildband.

Auf über 250 Seiten präsentiert sich im Bildband «Stolen Moments» der Alltag in Zürichs Strassen: Unterführungen, Parkhäuser, Eingangshallen, Treppenaufstiege. Und Menschen – immer wieder Menschen: an einer Tramhaltestelle, an einem Brunnen, beim Baden, zwischen Autos, mit Hund, einen Rollstuhl schiebend. Mit scharfem Blick hält der Fotograf Daniel Comte seine Umgebung fest. Die entstandenen Werke zeugen von seinem Humor, manche sind skurril und extravagant, andere schlicht und einfach. «Daniels Bilder sind ein Spiegelbild der Gesellschaft», sagt sein Sohn Anatole (27).

Die Bilder in «Stolen Moments» sind mit einem kurzen Titel oder Text ergänzt. Erst bei genauerem Hinsehen irritieren Details in der grafischen Gestaltung: Hier steht ein Buchstabe auf dem Kopf, dort verschwimmt ein Wort, eine Seitenzahl ist verkehrt, Schlusszeichen fehlen, die Schriftgrösse variiert. «Mit kleinen Veränderungen wollten wir Daniels Demenzerkrankung in den Bildband integrieren», erzählt seine langjährige beste Freundin Heike Rindfleisch (58). Denn während die Krankheit den Werber und Grafiker in seinem Alltag zunehmend einschränkte, blieben die Fotografien bis zuletzt davon unberührt.

2011 musste Daniel Comte seinen Beruf als erfolgreicher Art Director aufgeben. Er, der mit namhaften Fotografen aus aller Welt zusammengearbeitet hatte, begann nun selber zu fotografieren. Bis 2016 war er auf Zürichs Strassen und anderswo unterwegs und fing mit seiner Kamera Alltagsszenen ein. Jeden Abend versah er eines oder mehrere der entstandenen Bilder mit einem einschlägigen Titel und stellte sie auf Facebook. Von seiner Umgebung erwartete er postwendend einen Kommentar. «Er arbeitete exzessiv und leidenschaftlich», erzählt Sohn Anatole. «Die Welt um ihn herum war ihm kaum noch wichtig», bestätigt Freundin Heike Rindfleisch.

2014 hatte Daniel Comte die Diagnose Demenz erhalten – mit 51 Jahren. Sie bestätigte, was er und seine Nächsten schon vorher geahnt hatten: «Mit mir stimmt etwas nicht.» Wie besessen habe er fotografiert, als würde er spüren, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt, sagt Anatole Comte: «Mit seinen Bildern kämpfte er gegen das Vergessen an.» Tausende von Schwarz-Weiss-Bildern entstanden. Facebook war für Daniel Comte die Möglichkeit, die Besten davon seiner interessierten Community zu präsentieren. Zugleich reifte in ihm ein Herzenswunsch: Seine Fotos sollten in einem Buch erhalten bleiben. Sohn und Freundin würden alles daran setzen, ihm diesen grossen Wunsch zu erfüllen. Von nun an drängte er sie mit der Frage: «Was macht mein Buch?»

Über sechshundert Bilder aus der umfangreichen Sammlung seines Vaters druckte Anatole Comte aus und hängte sie an eine Wand. Zusammen mit seinem Vater wollte er eine Auswahl treffen. Doch dieser habe sich von keinem trennen können. Monatelang blieben die Fotos hängen. Und dann schritt die Krankheit plötzlich schneller fort, Daniel Comte musste in eine Institution für Demenzbetroffene umziehen, sein Interesse am Buch rückte in den Hintergrund. Anatole Comte und Heike Rindfleisch, Grafiker und Werberin, wagten sich an die Realisierung des Projekts. Sie hätten sich dabei optimal ergänzt, sind sich die Beiden einig.

© Stolen Moments

Nicht die Krankheit und auch nicht Daniels Geschichte sollten im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr Daniels Persönlichkeit und sein Werk. Dabei kam ihnen zugute, dass sie aus einer unterschiedlichen Perspektive mit ihm vertraut waren – er als Sohn, sie als Freundin. Drei Jahre lang arbeiteten sie zusammen, wählten Bilder aus, diskutierten über die Gestaltung, klärten rechtliche Fragen ab, schrieben Stiftungen an. Eine intensive Zeit sei es gewesen, erinnern sie sich, aber auch eine Zeit, die sie nicht mehr missen möchten: «Wir tauchten ein in die Welt der Demenz, eine neue, uns unbekannte Welt, die nicht nur traurig und düster ist», sagt Heike Rindfleisch. Vielmehr sei sie auch phantasievoll und oft mit einer Prise Humor versehen. Anatole Comte ist dankbar: «Die Krankheit verlor ihren Schrecken. Die Beziehung zu meinem Vater bekam eine neue Dimension. Wir lernten, auch kleine Momente zu geniessen.»

www.stolen-moments.ch

Cover: Stolen Moments

Beitrag vom 17.12.2020
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