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Nachtgedanken 2. April 2020

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: vom Schwarzen Hund.

Die Zuversicht schwindet am Abend. Wenn sich die Dämmerung herabsenkt, wenn es im Dörfli still wird und bei den beiden neuen Einfamilienhäuschen nebenan die Rollläden heruntergelassen werden. Ich lese, schaue manchmal einen Film, telefoniere oder schreibe. Nach «10vor10» wäre eigentlich Zeit fürs Bett. Doch jetzt trödle ich. Ich lege eine Patience, versuche mich an einem Sudoku und mache mir einen Orangenblütentee. Um das Bett mache ich einen grossen Bogen. Ich fürchte mich vor dem Schwarzen Hund. Seit einigen Wochen kommt er häufiger. 

«Schwarzer Hund» – so nennt man in unserer Gegend die finstersten Nachtstunden vor dem Morgengrauen: Wenn sich das Gedankenkarussell immer schneller dreht und mich Angst und Sorgen kaum noch atmen lassen. Die ganze aus den Fugen geratene Welt verdichtet sich dann zum Alptraum. Ich sehe vor mir die vielen Bilder, die während des Tages über mich hereingeschwappt sind: von Intensivstationen und erschöpftem Personal, von leergefegten Strassen und Plätzen, von Arbeitslosen und ruinierten Kleinbetrieben, von überfüllten Flüchtlingslagern und Kolonnen von Wanderarbeitern auf dem Weg zurück in ihre Heimatdörfer. 

Ich denke an meine Schwester mit ihrem Lungenkrebs, an meine rauchende Tochter, an meinen langjährigen Freund mit Herzproblemen, an meine 83-jährige Freundin auf ihrer Insel im Indischen Ozean, an meinen Nachbarn mit seinem angegriffenen Immunsystem. Urplötzlich taucht auch noch die Frage auf: Und was, wenn ich mich doch irgendwo angesteckt hätte? Wann wäre das gewesen? Würde ich die Krankheit meinem Mann weitergeben? Mein Herz klopft. Spüre ich nicht schon ein leises Kratzen im Hals? Die Angst wird irrational. Ich zünde das Licht an, steige aus dem Bett und hülle mich in meinen warmen Morgenmantel.

Der Hund steht verschlafen auf, als ich ihn rufe und mit ihm das Haus verlasse. Nirgendwo brennt ein Licht. Den Wunsch nach Strassenlampen hatte ein Gemeindepräsident bereits vor Jahrzehnten mit dem Argument abgelehnt: «Hiesigi kenne dr Wäg u Uswärtigi hei im Fyschtere hie nüt z’sueche.» Aber am Himmel leuchten Sterne, unzählige sind es, wie Diamanten funkeln sie am kalten Nachthimmel. Der Anblick dieser Unendlichkeit hat für mich etwas Tröstliches – wenigstens für einen Moment. Als ich ins Bett zurückkehre, graut im Osten der Morgen. Ich bin froh, und ich kann mich darauf verlassen: Mit dem neuen Tag wird meine Zuversicht zurückkehren. 

Uschs Notizen – bisher erschienen:

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Beitrag vom 02.04.2020
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin

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