Die Schweiz und Kalifornien im Herzen

Eine rotweisse Fahne vor dem Haus, Zitronen und exotische Blumen im Garten: Dieser Mix aus Schweiz und Kalifornien ist seit fast sechzig Jahren die Welt von Rosmarie Kienzle-Bölli. Die 80-jährige Auslandschweizerin aus Steckborn TG lebt seit 1963 in Los Angeles in den USA.

Text: Annegret Honegger

«Ich bin ein Mischmasch und habe zwei Heimaten», so beschreibt sich Rosmarie Kienzle selbst. «Reise ich in die Schweiz, nenne ich das ‚Heimgehen‘ – und die Rückreise nach Amerika ebenfalls.» 23 war sie 1963 und «wollte einmal etwas anderes sehen». Während viele Kolleginnen für ein Jahr nach England reisten, zog es die Älteste von fünf Geschwistern weiter, bis über den grossen Teich. «Das ist typisch für mich, ich mache nicht gern, was alle machen», sagt Rosmarie Kienzle und am Videotelefon sieht man sie schmunzeln. Sie packte ihre Koffer, um in Los Angeles als Au Pair zu arbeiten. Und schrieb bereits nach sechs Monaten nach Hause: Ich bleibe hier!

Warum die USA? Rosmarie Kienzle muss nicht lange überlegen: Die Leute! Das Wetter! Das Leben und die Menschen im grossen Land empfand sie als viel lockerer und offener als in der kleinen Schweiz der 1950er- und 1960er- Jahre: «Ich bin selbst ein kontaktfreudiger Typ, bin da vielleicht nicht die typische Schweizerin.»

Aus einem Jahr wurden fast sechzig

Als ausgebildete Laborantin – ein Beruf, den früher kaum Frauen lernten – fand sie in Amerika leicht eine Stelle. 1965 traf sie ihren Mann, einen gebürtigen Deutschen, die beiden heirateten, wurden Eltern einer Tochter und eines Sohnes, Grosseltern von vier Enkelkindern. Rosmarie Kienzle staunt selber, wie schnell aus dem geplanten Jahr Jahrzehnte wurden.

Im fernen Los Angeles fand die junge Frau 1963 nicht nur Fremdes und Exotisches, sondern auch Vertrautes. «Es gab damals eine grosse Gruppe von deutschen und Schweizer Auswanderern hier, mehrere deutschsprachige Schulen, Restaurants, Bäckereien und Metzgereien mit europäischen Spezialitäten.» Allein Südkalifornien zählte fast 15 Schweizer Clubs.

Der Venice-Kanal, Blumen im Park und Surfer im Pazifik.

Das Beste aus zwei Welten

Heute besteht Rosmarie Kienzles Leben aus dem Besten aus beiden Welten. Sie geniesst das kalifornische Klima und Spaziergänge am nahen Strand. Brot und den Sonntagszopf hingegen bäckt sie nach Schweizer Rezepten und für Fleischkäse, Bratwürste und Co. sorgt die Metzgerei in Beverly Hills, die ihr Mann lange führte. Bücher liest sie vor allem auf Englisch. Die News bringt SRF Musikwelle zum Frühstück auf Schweizerdeutsch. Abstimmen geht die Doppelbürgerin aber nur in den USA: «Es käme mir falsch vor, in der Schweiz über Dinge zu entscheiden, mit denen dann andere leben müssen.»

«Wenn Gäste kommen, hängt die Fahne draussen»

Gesprochen wird im Hause Kienzle meist schweizerdeutsch: «Mein Mann versteht Thurgauer Dialekt als Schwarzwälder zum Glück gut.» Während Sohn und Tochter ebenfalls deutsch reden, sprechen die Enkel lieber englisch – auch mit den Coucousins und Coucousinen in der Schweiz: «Die Schweizer Kinder lernen heute ja bereits in der Primarschule englisch, so können sie sich problemlos verständigen.»

Die Familie besucht sich – unter normalen Umständen – häufig auf beiden Seiten des Atlantiks. Alle Mitglieder bis in die dritte Generation besitzen den roten Pass. «Das ging ganz schnell, als die Gesetze Doppelbürgerschaften erlaubten», erzählt Rosmarie Kienzle augenzwinkernd, «schliesslich kannten uns die Mitarbeitenden auf dem Schweizer Konsulat, da sie bei uns ihre Würste kauften …»

Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Sowohl die Distanz wie auch die Unterschiede zwischen der Schweiz und den USA seien heute viel kleiner als anno dazumal, findet Rosmarie Kienzle. Statt wie früher zum Luftpostpapier oder zum teuren Telefon greife man heute zum Handy oder zum Computer und sehe die Verwandtschaft sofort und gratis via Bildschirm. Und unterdessen stehe alles, was es früher nur in den USA zu kaufen gab, längst auch in Schweizer Läden. Selbst die Mentalität sei ähnlicher: «Heute sind auch die Schweizerinnen und Schweizer lockerer, reisen gern und interessieren sich dafür, was auf der Welt passiert.» Anders als früher ihr Vater, der jeweils das Radio ausschaltete, sobald der Nachrichtensprecher «und nun zum Ausland» sagte.

Die Schweiz sei heute besser aufgestellt als die USA, die Rosmarie Kienzle als Einwanderungsland längst nicht mehr so attraktiv findet wie früher. Politisch bedauert sie die grossen Gräben, welche die letzte Präsidentschaft aufgerissen habe. «Entweder man war total für oder total gegen Trump. Das hat auch die Schweizerinnen und Schweizer hier gespalten», sagt die Demokratin. In ihrer Gegend gebe es heute deutlich mehr Obdachlose und die Bodenpreise seien derart gestiegen, dass sich eine gewöhnliche Familie kaum mehr eine Existenz aufbauen könne.

Längst kommen die Einwanderer in Los Angeles nicht mehr aus Europa, sondern aus Südamerika oder Südafrika. Und bringen ihre eigenen Gewohnheiten, Geschmäcker und Geschäfte mit. «Die Stadt ist viel bunter als früher», findet Rosmarie Kienzle. Besucht sie heute den Schweizer Club, so trifft sie meist ältere Semester, die zu einer ähnlichen Zeit aus- bzw. eingewandert sind wie sie: «Für die dritte Generation sind solche Kontakte nicht mehr interessant. Sie fühlen sich unterdessen ganz als Amerikaner und sprechen auch kaum mehr deutsch.»

Vermisst: Metzgete und Vermicelles!

Rosmarie Kienzle ist längst selbst eine glückliche Amerikanerin. Sie liebt die schöne Gegend um Los Angeles, wo man in nur zwei Stunden vom Strand auf die Skipiste oder in einen der Nationalpärke fahren kann. Hier hat sie einen grossen Freundeskreis und einen schönen Garten, der in der Pandemie noch wichtiger geworden ist.

Rumiklub während der Pandemie im Park


Auf Besuch aus der Schweiz wie sonst muss sie derzeit verzichten. Wann die nächste Reise in die alte Heimat möglich wird, weiss sie nicht. Eine richtige Metzgete, Vermicelles oder heisse Marroni – das sind neben den Geschwistern, Cousins und Cousinen die kleinen Dinge, die sie vermisst. Ihre Tage seien gleichförmiger geworden, jetzt wo viele Aktivitäten nicht mehr möglich seien – etwa ihre Freiwilligeneinsätze im Getty Museum, wo sie seit zwanzig Jahren Menschen aus aller Welt begrüsst.

Trotzdem bleibt Rosmarie Kienzle – ganz Amerikanerin – optimistisch. Bald erhält sie die zweite Corona-Impfung und freut sich auf den Frühling. «Wenn die Sonne scheint, ist alles leichter», meint sie. Da stehen ihre Chancen in Kalifornien ja sicher nicht schlecht.

Zeitlupe-Serie: Auslandschweizerinnen und -schweizer

Mehr als 10 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland. Die Zeitlupe gibt ihnen in einer Artikel-Serie ein Gesicht. Lesen Sie hier weitere interessante Portraits.

 


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Beitrag vom 25.02.2021
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