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Ein Lied geht um die Welt

Vor zweihundert Jahren erklang es zum ersten Mal im Mitternachtsgottesdienst in Oberndorf, einem kleinen Ort nördlich von Salzburg. Heute wird «Stille Nacht» von rund zwei Milliarden Menschen gesungen. Sein Zauber ist ungebrochen.

Text: Usch Vollenwyder

Dezember 1918. Die napoleonischen Kriege sind zu Ende gegangen. Die Menschen leben in bitterer Armut. Auch im kleinen österreichischen Ort Oberndorf, einer verarmten Gemeinde rund zwanzig Kilometer nördlich von Salzburg an der Salzach. Nach dem Niedergang der Schifffahrt gibt es im Dorf keine Arbeit mehr. Hoffnungslosigkeit macht sich breit. Der junge Hilfspriester in der St. Nikolauskirche, Joseph Mohr, versucht zu helfen, wo er kann. Er ist ein aufmüpfiger Geistlicher, einer, der sich konsequent auf die Seite der Armen und Benachteiligten stellt.

Weihnachten naht. Alle Frauen, Männer und Kinder des Dorfes würden in die Mitternachtsmesse kommen und auf Trost und Zuversicht hoffen. Doch die Orgel ist kaputt. Vielleicht haben Mäuse die Blasebälge angeknabbert, vielleicht hat ihr die Feuchtigkeit zugesetzt. Das Geld fehlt, um sie zu reparieren. Weihnachten ohne Musik? Joseph Mohr eilt zu seinem Freund Franz Xaver Gruber ins benachbarte Arnsdorf. Dort unterrichtet dieser als Lehrer. Nebenbei ist er auch Organist in der St. Nikolauskirche. Joseph Mohr zieht ein Papier aus seiner Rocktasche: «Kannst du dieses Gedicht für die Christmette vertonen?»

Das Gedicht hatte Joseph Mohr zwei Jahre zuvor während einer Vikariatsstelle in Mariapfarr im Süden des Salzburger Landes aufgeschrieben. In sechs Strophen erzählt es von der Geburt eines kleinen Kindes und vom Frieden auf Erden für alle Menschen. Franz Xaver Gruber nimmt es entgegen und soll noch am gleichen Tag die Melodie dazu geschrieben haben – für zwei Männerstimmen und Gitarrenbegleitung. Als in dieser Weihnachtsnacht der Mitternachtsgottesdienst zu Ende ist, treten Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber vor die Krippe; der Hilfspfarrer spielt die Gitarre und singt die Bassstimme, der Komponist und Organist den Tenor: «Stille Nacht, heilige Nacht…»

Siegeszug um die Welt

Das schlichte Lied muss die Menschen tief berührt haben. Der Salzburger Historiker, Buchautor und Kulturredaktor Werner Thuswaldner ging intensiv den Umständen und Hintergründen nach, die zur Entstehung und weltweiten Verbreitung von «Stille Nacht» führen konnten und veröffentlichte mehrere Publikationen dazu. Er ist überzeugt, dass die Menschen in dieser von existenziellen Nöten geprägten Zeit besonders empfänglich für ein solches Lied waren. Der tröstende Text, verbunden mit dieser einfachen, einprägsamen Melodie, musste ihnen direkt zu Herzen gehen.

Der Zillertaler Orgelbauer Franz Mauracher wurde nach Oberndorf gerufen, um die alte Orgel zu begutachten. Er nahm «Stille Nacht» mit in seine österreichische Heimat. Die singende Handwerksfamilie Strasser brachte das Lied 1832 auf den Weihnachtsmarkt nach Leipzig, wo es vom Musikverleger August Robert Friese gehört und gedruckt wurde. Als «Tyroler-Lied» gelangte es schliesslich in die Vereinigten Staaten. 1839 wurde es von der Zillertaler Sängerfamilie Reiter vor der St. Patrick Cathedral in der Wall Street in New York aufgeführt. Vierzig Jahre nach der Uraufführung erschien die erste englische Übersetzung. Missionare brachten das Lied schliesslich in abgelegenste Erdteile und trugen damit zu seiner weltweiten Verbreitung bei.

Heute wird «Stille Nacht» rund um den Erdball von etwa zwei Milliarden Menschen gesungen. Übersetzt in über dreihundert Sprachen und Dialekte berührt es Männer und Frauen aus allen sozialen Schichten, Konfessionen und Nationen. Weder Volks- noch Kunstlied, verbindet es Menschen über Generationen und Distanzen hinweg. Erschütternd ist das Dokument der deutschen Weihnachtsringsendung von 1942 zu hören: Auf Wunsch der Soldaten, die auf der Krimhalbinsel stationiert waren, wurden nacheinander die Truppen an allen Fronten zugeschaltet, um miteinander «Stille Nacht, heilige Nacht» zu singen.

An Weihnachten ist «Stille Nacht» nicht wegzudenken: Kein Weihnachtsgottesdienst und keine Mitternachtsmesse, an deren Ende nicht die Kirchenbeleuchtung gelöscht und es von der Gemeinde im Schein der Kerzen am Baum angestimmt wird. In den grössten und prominentesten Konzertsälen und -hallen wird es von den berühmtesten Sängerinnen und Sängern vorgetragen. Während das Weihnachtslied seinen Siegeszug um die ganze Welt antrat, gerieten sein Texter und Komponist für Jahrzehnte in Vergessenheit.

Joseph Mohr starb am 4. Dezember 1848 an den Folgen einer Lungenentzündung, die er sich in einer kalten Winternacht auf dem Gang zu einem Sterbenden geholt hatte. Sein Geld reichte nicht einmal für eine ordentliche Bestattung. Selber in tristen sozialen Verhältnissen in Salzburg aufgewachsen – für das uneheliche Kind hatte seine Mutter noch eine Geldstrafe zu bezahlen – hatte er sich zeitlebens den Ärmsten verpflichtet gefühlt und sein Geld für soziale Aufgaben ausgegeben. Freiwillig oder unfreiwillig musste der eigensinnige Priester rund ein Dutzend Mal die Seelsorgestelle wechseln.

Franz Xaver Gruber war Sohn eines Leinenwebers. Der musikalisch begabte junge Mann erhielt eine Ausbildung als Organist und Lehrer und trat seine erste Stelle in Arnsdorf an. Er hatte die Witwe seines Vorgängers zu heiraten – so sah es das damals übliche soziale Versorgungssystem vor. 21 Jahre lang war der passionierte Komponist in Arnsdorf tätig. 1835 zog er nach Hallein südlich von Salzburg, wo er sich ganz der Musik widmete, komponierte und als geachteter Organist und Chorregent 1863 starb. Nur gerade während zweier Jahre, von 1818 bis 1820, hatten Franz Xaver Gruber und Joseph Mohr beruflich miteinander zu tun. Ob sich ihre Wege später noch einmal kreuzten, ist nicht belegt. Das Zusammentreffen während dieser Zeit genügte, um ein unsterbliches Lied zu schaffen.

Unterwegs im Stille-Nacht-Land

Sechs Orte im Salzburgerland sind eng mit dem Leben und Wirken des Komponisten und des Texters von «Stille Nacht» verbunden. Diese haben sich zur Arbeitsgemeinschaft «Stille-Nacht-Land Salzburg» zusammengeschlossen. Ziel ist es, das Lied, dessen Geschichte und die damit verbundenen Orte in der Öffentlichkeit bekanntzumachen und einem breiten Publikum zu erschliessen. Eine Reise zu den verschiedenen Gedenkstätten ist vor allem während der Adventszeit ein besonderes Erlebnis. Sie beginnt in Salzburg, der Geburtsstadt von Joseph Mohr – genauer gesagt in der Steingasse.

Die Steingasse, die sich zwischen dem rechten Salzachufer und dem Fuss des Kapuzinerbergs hinzieht, hat sich seit Joseph Mohrs Geburt nicht viel verändert. Sie ist schmal und mit Kopfstein gepflastert. Einst war sie eine typische Handwerksgasse: Gerber, Hafner und Seiler liessen sich dort nieder. Heute haben freundliche Häuserfronten die Düsterheit aus der engen Gasse vertrieben. Neben der Eingangstür zu Josef Mohrs Geburtshaus hängt eine mit einer Girlande aus Tannenzweigen geschmückte Gedenktafel: «…Dankbar gedenkt ihres Sohnes die Stadt Salzburg…» Getauft wurde Joseph Mohr im Salzburger Dom – am gleichen Taufstein wie Wolfgang Amadeus Mozart.

Weihnachtsmarkt auf dem Residenzplatz in Salzburg
Weihnachtsmarkt auf dem Residenzplatz in Salzburg © SalzburgerLand Tourismus

Auf dem Dom- und Residenzplatz ist Christkindlmarkt. Reges Treiben herrscht an den Ständen. Christbaumschmuck und Krippenfiguren, Adventskränze und Mozartkugeln, Firlefanz und Kunsthandwerk werden angeboten. Es riecht nach Glühwein und Lebkuchen. Lichterketten, Sterne und Tannenbäume glitzern und glänzen. Das Salzburg Museum direkt am Residenzplatz ist im Besitz der einzigen Fassung des Weihnachtslieds aus der Feder von Joseph Mohr. Bis 1995 war dieses Dokument in Privatbesitz, erst 2008 wurde es zum 190-Jahr-Jubiläum der Uraufführung von «Stille Nacht» restauriert und für das Publikum zugänglich gemacht.  

Von Salzburg aus dauert die Fahrt mit dem Auto weniger als eine halbe Stunde nach Arnsdorf, dem ersten Wirkungsort des Komponisten Franz Xaver Gruber. In der barocken Kirche mit ihrem Zwiebelturm ist es dunkel und kalt. Im Chor singen drei Männer Weihnachtslieder. Sie sind eingemummt in dicke Wintermäntel. Beim Hinausgehen erklingt das Glockenspiel der Kirche: «Stille Nacht…» Im nebenstehenden Schulhaus – es ist das älteste in Österreich, in dem noch unterrichtet wird – hat in Grubers ehemaligem Klassenzimmer sein Lehrerpult einen Ehrenplatz. Die einstige Lehrerwohnung im oberen Stock ist als Museum eingerichtet – als eines der zahlreichen Museen zum Thema Stille Nacht: Originale Alltagsgegenstände geben einen Einblick in das Leben der Menschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Zur Gedächtnis-Kapelle

Nach einem wärmenden Glühwein im Arnsdorfer Gasthaus – wie könnte es anders heissen als «Stille Nacht Hof» – geht die Fahrt mit Ross und Wagen weiter nach Oberndorf. Dort hatte Franz Xaver Gruber als Organist in der St. Nikolauskirche die schmalen Einkünfte für seine grosse Familie aufgebessert. In der Dämmerung traben die Pferde dahin. Ihre Hufe klappern auf dem Asphalt. Sonst ist es still. Auf den Nebensträsschen hat es kaum Verkehr. Der Kutscher reicht seinen Gästen eine Flasche mit Gebranntem nach hinten: Zum Aufwärmen müsse man einen tüchtigen Schluck nehmen. Die kalte Winterluft ist trotz der warmen Decken über den Knien zu spüren.

Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf
Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf © Tourismusverband Oberndorf

Weihnachtlich geschmückt ist der Stille-Nacht-Bezirk in Oberndorf. Die frühere St. Nikolauskirche gibt es nicht mehr – die vielen Überschwemmungen durch die Salzach hatten sie zerstört. An ihrer Stelle steht heute die Stille-Nacht-Gedächtniskapelle. Der schlichte Bau mit seinem achteckigen Grundriss wurde als Erinnerung an die beiden Stille-Nacht-Autoren 1936 eingeweiht. Glasfenster und Gemälde zeigen ihre Porträts. Von der Decke hängt ein Adventskranz. Der Tannenbaum ist mit Strohsternen und roten Kugeln geschmückt. Zwei junge Männer mit Gitarre und in der lokalen Tracht treten auf. Sie singen das alte Weihnachtslied in seiner Originalfassung, mit allen sechs Strophen: Bass, Tenor und Gitarrenbegleitung.

Am nächsten Tag geht die Fahrt weiter, in die Stille Nacht Gemeinden südlich von Salzburg: Jenseits des Tauerntunnels herrscht tiefer Winter. Es schneit und ist kalt. In dieser Gegend, in Mariapfarr, hatte der junge Joseph Mohr seine erste Stelle als Hilfspriester angetreten. Ein Altarbild in der gotischen Kirche zeigt Maria mit dem Jesuskind – einem kleinen, blond gelockten Knaben. Die Vermutung liegt nahe, dass Joseph Mohr dieses Bild vor Augen hatte, als er 1916 in seiner einfachen Kammer im Pfarrhaus die Zeile schrieb «Holder Knabe im lockigen Haar…»

Joseph Mohr Grab in Wagrain und eine Büste in Mariapfarr
Joseph Mohr Grab in Wagrain und eine Büste in Mariapfarr © SalzburgerLand Tourismus

Die letzten Jahre vor seinem Tod verbrachte Joseph Mohr in Wagrain südlich von Salzburg. Sein schneebedecktes Grab liegt auf dem Friedhof zwischen der Kirche und der Schule, die er gegründet hatte, und die später nach ihm benannt wurde. Eine Blaskapelle steht davor und stimmt Weihnachtsmelodien an. Die letzte Station auf der Reise durch das Stille-Nacht-Land ist Hallein. «Hier wohnte und starb Franz X. Gruber» steht über dem ehemaligen Wohnhaus des Komponisten gleich neben der Kirche. Davor befindet sich Grubers Grab unter einer Schneedecke. Das neue, barrierefreie Stille-Nacht-Museum würdigt das Schaffen und Wirken Grubers und erzählt die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte der Weihnachtslieds.

Haus von Gruber mit Grab (rechts im Bild) in Hallein
Haus von Gruber mit Grab (rechts im Bild) in Hallein © SalzburgerLand Tourismus

Stille Nacht allüberall

Zur Weihnachtszeit führt im Salzburgerland kein Weg an Stille Nacht und seinen Vätern vorbei: Es gibt ein Stille-Nacht-Weihnachtssonderpostamt und einen Stille-Nacht-Fackelzug, es gibt Stille-Nacht-Museen, -Plätze und -Bezirke, Stille-Nacht-Sonderfahrten mit der Salzburger Lokalbahn, den Gruber-Mohr-Gedenkgang von Arnsdorf nach Oberndorf, das Joseph-Mohr-Gedächtnissingen oder die Franz-Xaver-Gruber-Gedächtnismette. Selbst am Himmel sind die Schöpfer von «Stille Nacht» präsent: Seit 1989 gibt es den Mohr-Gruber-Asteroiden.

Der grösste Anlass findet aber jedes Jahr am 24. Dezember nachmittags vor der Gruber-Mohr-Gedächtniskapelle in Oberndorf statt – wenn Tausende von Besucherinnen und Besuchern aus der ganzen Welt zusammenkommen, um der Entstehung des berühmtesten aller Weihnachtslieder zu gedenken. Dem Zauber der Melodie kann sich niemand entziehen. Erinnerungen an die Kindheit, an eine unwiederbringliche Vergangenheit werden wach, wenn schliesslich die vielen Menschen – alle in ihrer Sprache – miteinander ins alte Weihnachtslied einstimmen: «Stille Nacht! Heilige Nacht…»

Internetadressen:
www.stillenacht.at, www.stillenachtland.at, www.stillenacht.com, www.salzburgerland.com, www.salzburg.info

Video 200 Jahre Stille Nacht

TV-Tipp «Stille Nacht – Ein Lied für die Welt»

Der österreichische Dokumentarfilm «Stille Nacht – Ein Lied für die Welt» spannt einen Bogen von der Entstehung des Liedes am Heiligabend 1818 durch Franz Xaver Gruber und Joseph Mohr bis zu seiner abenteuerlichen Verbreitung von Salzburg über Hamburg, New York und Los Angeles. Mehr Infos zum Film gibts hier.

TV-Sendetermine auf Servus TV:
23. Dezember, 22.15 Uhr
24. Dezember, 1.05 Uhr
24. Dezember, 13.55 Uhr

Beitrag vom 22.12.2019
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