Der grosse Graben 11. Mai 2020

Zeitlupe-Redaktorin Usch Vollenwyder ist 69 Jahre alt. Als Angehörige der Risikogruppe erzählt sie jeden Montag aus ihrem Alltag im bernischen Gürbetal. Heute: von Selbstverantwortung und Altersgrenzen. 

Gerade als ich anfange, so richtig übellaunig und streitsüchtig durch den Alltag zu gehen, verspricht der Gesundheitsminister auch über 65-Jährigen mehr Freiheit. Noch vor wenigen Tagen tönte es anders: Personen im Pensionsalter sollten weiterhin zu Hause bleiben. Ab heute jedoch dürfen sie sich wieder in der Öffentlichkeit bewegen. Selbstverständlich mit der nötigen Vorsicht und unter Einhaltung der vorgegebenen Hygiene- und Abstandsregeln. Zum Wochenbeginn würden konkrete Empfehlungen für Risikogruppen publiziert. 

Was habe ich mich in den letzten Tagen und Wochen über diese Altersgrenze geärgert! Erst noch gefragt als hütende Grosseltern, engagierte Freiwillige oder betreuende Angehörige wurde eine ganze Generation von einem Tag auf den anderen als sogenannte «Vulnerable» in den Topf geworfen, in dem alle Schweizerinnen und Schweizer zwischen 65 und über 100 – also rund ein Fünftel der gesamten Schweizer Bevölkerung – die Coronakrise auszusitzen haben. Sie gelte es besonders zu schützen, sagen Politik und Medizin. Sie sagen es mit solchem Nachdruck, dass sich Grauhaarige und Kahlköpfige kaum noch ausserhalb ihrer vier Wände sehen lassen können.

«Ich will nicht geschützt, ich will vielmehr respektiert werden», schrieb eine Leserin auf einen Artikel in der letzten Zeitlupe, der mit «Die Schwächsten schützen» übertitelt war. Offensichtlich traut man jüngeren und jungen Menschen mit einer Vorerkrankung Selbstverantwortung und die Fähigkeit zu einer Risikoabwägung zu, während man die ältere und alte Generation mit einer Altersgrenze vor sich selber – und die Gesellschaft vor ihr – zu schützen versucht. Als könnten nicht auch wir ü65 Verantwortung für uns und die Gemeinschaft übernehmen und die Risiken entsprechend abwägen. 

Am Wochenende bekomme einen Telefonanruf von meiner deutschen Freundin. Nein, in ihrem Bundesland und überhaupt in Deutschland sei nie eine Altersgrenze genannt worden. Das wäre ja diskriminierend, sagt sie verblüfft. Jedermann wisse doch, dass Vorerkrankungen und zunehmendes Alter die grössten Risikofaktoren für eine schwere Covid-19-Erkrankung seien. Aber auch in ihrem Land drohe eine Kluft: Zwar weniger zwischen Alt und Jung, als vielmehr zwischen Menschen, die sich an die Vorschriften und Empfehlungen halten und solchen, die sich darum foutieren. Corona nicht nur als Virus, sondern auch als Graben – als gesellschaftlicher Graben.

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Beitrag vom 11.05.2020
Usch Vollenwyder

Zeitlupe-Redaktorin

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